Fragen zur Vorlesung vom 29. Mai 2012, Stand: 3. Juli 2012

  1. Unterstellt, ein Richter sei der Auffassung, sekundäres Gemeinschaftsrecht (auf dem der ihm zur Entscheidung vorliegende Verwaltungsakt beruhe) verstoße gegen Grundrechte. Legt er das Verfahren dem EuGH oder dem BVerfG vor? Anders gefragt: Wie verhalten sich die Zuständigkeiten von BVerfG und EuGH zueinander (wenn Sie es vertiefen wollen: vgl. Sie Oderdahl, Das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH in Grundrechtsfragen, JA 2000, 219 ff. (zu Solange I, Solange II und Maastricht), ders, JA 2001, 283 ff. oder Schmid, NVwZ 2001, 249 ff. (jeweils zu Bananenmarkt), Sauer, ZRP 2009, 195 ff., Kompetenz- und Identitätskontrolle von Europarecht nach dem Lissabon-Urteil (zu Lissabon), ders., EuZW 2011, 94, Das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH nach Honeywell (zu Honeywell)?
    • Der erste Beschluss bezüglich Zuständigkeiten hinsichtlich eines möglichen Verstoßes des Sekundärrechts der EG gegen Grundrechte geschah in dem sog. Solange-I-Beschluss 1974. Damals entschied das BVerfG, dass sekundäres Gemeinschaftrecht seine Grenzen in den Grundrechten fand. „Solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist nach Einholung der in Art. 177 EWGV geforderten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes die Vorlage eines Gerichts der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die für es entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in der vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung für unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert.“ (BVerfGE,37, 271)
    • Diese Entscheidung wurde jedoch durch den Solange-II-Beschluss überholt. in diesem Beschluss stellte das BVerfG klar, dass ausreichender Grundrechtsschutz durch den EuGH gewährleistet wird. „1. a) Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Er ist ein durch die Gemeinschaftsverträge errichtetes hoheitliches Rechtspflegeorgan, das auf der Grundlage und im Rahmen normativ festgelegter Kompetenzen und Verfahren Rechtsfragen nach Maßgabe von Rechtsnormen und rechtlichen Maßstäben in richterlicher Unabhängigkeit grundsätzlich endgültig entscheidet. b) Das Verfahrensrecht des Gerichtshofs genügt rechtsstaatlichen Anforderungen an ein gehöriges Verfahren; es gewährleistet insbesondere das Recht auf Gehör, dem Verfahrensgegenstand angemessene prozessuale Angriffsmöglichkeiten und Verteidigungsmöglichkeiten und frei gewählten, kundigen Beistand. 2. Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte oder Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen; entsprechende Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG sind somit unzulässig.“ (BVerfGE 73, 339, 340).
    • Heute spricht man von einem Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH, dies stellte das BVerfG zuletzt in dem Maastrich-Urteil fest (BVerfGE 89, 155). Das Bundesverfassungsgericht wies in seinem Urteil mehrere Verfassungsbeschwerden die gegen den Vertrag der europäischen Union gerichtet waren zurück und ermöglichte dessen Inkrafttreten.
    • ABER DIE ENTWICKLUNG IST WEITER GEGANGEN. WAS STEHT ETWA IN DEM LISSABON - URTEIL ODER IN DEM HONEYWELL - URTEIL?
  2. Was ist unter Grundrechtskontrolle, Ultra-vires-Kontrolle und unter Identitätskontrolle europäischen Rechts durch das BVerfG zu verstehen?
  3. Unterstellt, ein in einer Justizvollzugsanstalt Einsitzender vertrete die Auffassung, seine nachträgliche Sicherungsverwahrung sei unter Verstoß gegen die EMRK und zugleich unter Verstoß gegen das Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes erfolgt. Kann er Beschwerde zum EGMR oder zum BVerfG erheben? Anders gefragt Wie verhalten sich die Zuständigkeiten von BVerfG und EGMR zueinander (wenn Sie es vertiefen wollen: vgl. Sie das Urteil des BVerfG zur Sicherungsverwahrung vom 4. Mai 2011)?
    • Noch 2004 hatte das BVerfG Beschwerden bezüglich nachträglicher Sicherungsverwahrung zurückgewiesen. Nach dem Urteil des EGMR vom 17.12.2009 änderte das BVerfG diese Ansicht jedoch, wie sich aus seiner Entscheidung vom ... ergibt. Dass der EGMR entschieden hatte, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen Art. 7 EMRK verstoße, hat das Bundesverfassungsgericht letztlich veranlasst, die nachträgliche Sicherheitsverwahrung für verfassungswidrig zu erklären. Das BVerfG ist somit zuständig, muss das GG im Lichte der EMRK auslegen.
  4. Welche Aufgaben sind in dem vom Grundgesetz geprägten Staat der Rechtsprechung und damit auch dem Richter anvertraut?
    • Die rechtsprechende Gewalt ist gem. Art. 92 GG den Richtern anvertraut. Der rechtsprechenden Gewalt sind neben reiner Rechtsprechungstätigkeit auch andere Aufgaben zugewiesen, die als Aufgaben der Rechtspflege bezeichnet werden können. Die Rechtsprechung ist in erster Linie eine letztverbindliche Rechtskontrolle unter höchstmöglichen Richtigkeitsgarantien ( Neutralität, Sicherung rechtl. Gehörs, richterl. Unabhängigkeit, Bindung an Recht und Gesetz). Die Rechtsprechung bietet dadurch jedem einzelnen Bürger individuellen Rechtsschutz.
  5. Welche Aspekte hat die richterliche Tätigkeit - zeichnen Sie ein Richterbild.
    • Wie oben aufgeführt ist ein Richter nur an Recht und Gesetz gebunden und somit unabhängig gegenüber anderen Einflüssen. Außerdem soll durch einen Richter rechtl. Gehör garantiert werden. Ein Richter ist zunächst als Sachverhaltsermittler tätig, da er die Wahrheit herausfinden soll. Ferner soll ein Richter aber auch Rechtsanwender sein, indem er auf Grundlage der richtigen Gesetze eine Entscheidung trifft. Dazu muss ein Richter subsumieren und Rechtsnormen auslegen. Ein Richter sollte im Hinblick auf die Auslegung auch wissenschaftlich offen sein. Darüber hinaus kommt dem Richter eine soziale Schutzfunktion zu, die besonders innerhalb von Wertungsspielräumen und Rechtsfortbildung eine Rolle spielen.
  6. Was vermag - im Sinne einer auf das Volk zurückzuführenden Legitimation - richterliche Arbeit zu legitimieren?
    • Zum einen die Bindung des Richters an das Gesetz, das von dem vom Volk gewählten Parlament beschlossen wurde. Die Einhaltung des gesetzliche vorgeschriebenen Verfahrens gestattet zum anderen, auch materiell-rechtlich falsche Entscheidungen als vom Volkswillen getragen anzusehen. Die Legitimationswirkung durch das Verfahren wird gestützt durch richterliche Unabhängigkeit und richterliche Neutralität. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts und auch die Richter der Obersten Gerichtshöfe sind durch Wahlen legitimiert.
  7. Vermag die Bindung an das Gesetz richterliche Arbeit zu legitimieren?
    • Ja, sieht vorherige Antwort.
  8. Welches sind die Rechtsgrundlagen der Bindung an das Gesetz?
    • Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG, § 25 DRiG, § 1 GVG
  9. Was heißt, der Richter sei an „Recht und Gesetz“ gebunden?
    • „… Die traditionelle Bindung des Richters an das Gesetz, ein tragender Bestandteil des Gewaltentrennungsgrundsatzes und damit der Rechtsstaatlichkeit, ist im Grundgesetz jedenfalls der Formulierung nach dahin abgewandelt, dass die Rechtsprechung an "Gesetz und Recht" gebunden ist (Art. 20 Abs. 3). Damit wird nach allgemeiner Meinung ein enger Gesetzespositivismus abgelehnt. Die Formel hält das Bewusstsein aufrecht, dass sich Gesetz und Recht zwar faktisch im Allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch“ (BVerfG 1 BvR 112/65 vom 14. Februar 1973, Soraya).“
  10. Welche Auslegungsmethoden wendet der Richter traditioneller Weise an, um den Inhalt des Gesetzes, an das er gebunden ist, zu erkennen?
    • grammatische, systematische, historische und teleologische Auslegung
  11. Ist der Richter befugt, dessen Verfassungsgemäßheit zu überprüfen?
    • Ja, ein Richter überprüft Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit. Das Normenververfungsmonopol liegt für nachkonstitutionelle Gesetze hingegen ausschließlich beim Bundesverfassungsgericht, dem der Richter eine für verfassungswidrig gehaltene Norm bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nach Art. 100 Abs. 1 GG vorlegen muss.
  12. Was ist unter verfassungskonformer und was unter europarechtsfreundlicher Auslegung zu verstehen?
    • Unter verfassungskonformer Auslegung versteht man, dass wenn es für ein Gesetz mehrere Auslegungsmöglichkeiten gibt, von denen nur eine mit dem GG vereinbar ist, der Richter diese zu wählen hat.
  13. Was ist unter Analogie zu verstehen?
    • Anwendung einer Norm auf einen Sachverhalt, der von der Norm eigentlich nicht erfasst ist; entsprechende Anwendung; nur bei planwidriger Lücke im Gesetz
  14. Wo steht: „Le juge qui refusera de juger, sous prétexte du silence, de l’obscurité ou de l’insuffisance de la loi, pourra être poursuivi comme coupable de déni de justice.”?
    • Code civil Artikel 4
  15. Und wo steht: “Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll das Gericht nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde. Es folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.“?
    • ZGB der Schweiz
  16. Was ist unter richterlicher Rechtsforbildung zu verstehen
    • „Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch.
    • Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muss sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muss auf rationaler Argumentation beruhen. Es muss einsichtig gemacht werden können, dass das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den "fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft".
    • Diese Aufgabe und Befugnis zu "schöpferischer Rechtsfindung" ist dem Richter - jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes - im Grundsatz nie bestritten worden … Den Großen Senaten der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat der Gesetzgeber selbst die Aufgabe der "Fortbildung des Rechts" ausdrücklich zugewiesen (s. z. B.§ 137 GVG).
    • Fraglich können nur die Grenzen sein, die einer solchen schöpferischen Rechtsfindung mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung gezogen werden müssen. Sie lassen sich nicht in einer Formel erfassen, die für alle Rechtsgebiete und für alle von ihnen geschaffenen oder beherrschten Rechtsverhältnisse gleichermaßen gälte.
    • Für die Zwecke dieser Entscheidung (gemeint ist BVerfG 1 BvR 112/65 vom 14. Februar 1973, Soraya) kann die Fragestellung auf das Gebiet des Privatrechts beschränkt werden. Hier sieht sich der Richter der großen Kodifikation des Bürgerlichen Gesetzbuchs gegenüber, die seit über 70 Jahren in Kraft steht. Das ist in doppeltem Sinn von Bedeutung: einmal wächst mit dem "Altern der Kodifikationen" (Kübler, JZ 1969, S. 645), mit zunehmendem zeitlichen Abstand zwischen Gesetzesbefehl und richterlicher Einzelfallentscheidung notwendig die Freiheit des Richters zur schöpferischen Fortbildung des Rechts. Die Auslegung einer Gesetzesnorm kann nicht immer auf die Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehenbleiben. Es ist zu berücksichtigen, welche vernünftige Funktion sie im Zeitpunkt der Anwendung haben kann. Die Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlich-politischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muss sich unter Umständen mit ihnen wandeln. Das gilt besonders, wenn sich zwischen Entstehung und Anwendung eines Gesetzes die Lebensverhältnisse und Rechtsanschauungen so tiefgreifend geändert haben wie in diesem Jahrhundert. Einem hiernach möglichen Konflikt der Norm mit den materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen einer gewandelten Gesellschaft kann sich der Richter nicht mit dem Hinweis auf den unverändert gebliebenen Gesetzeswortlaut entziehen; er ist zu freierer Handhabung der Rechtsnormen gezwungen, wenn er nicht seine Aufgabe, "Recht" zu sprechen, verfehlen will.“
  17. Berechtigt also jede tiefgreifende Änderung der Lebensverhältnisse und Rechtsanschauungen zur einer Nichtanwendung des Gesetzesrechts ???
  18. Zur richterlichen Rechtsfortbildung aus jüngerer Zeit (BVerfG 1 BvR 918/10 vom 25 Januar 2011, Dreiteilungsmethode):
    • „ … Diese Verfassungsgrundsätze verbieten es dem Richter allerdings nicht, das Recht fortzuentwickeln. Angesichts des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse und der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sowie der offenen Formulierung zahlreicher Normen gehört die Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse zu den Aufgaben der Dritten Gewalt. Der Aufgabe und Befugnis zur "schöpferischen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung" sind mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung jedoch Grenzen gesetzt. Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen. Er hat hierbei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder - bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke - stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein.
  19. Ist der Richter an Präjudizien gebunden?
    • Im Gegensatz zu anderen Rechtssystemen - z. B. dem britischen - sind deutsche Richter an Entscheidungen anderer, auch höherinstanzlicher Gerichte nicht gebunden. Gleichwohl sollte ein Instanzrichter nicht leichtfertigt von der höchstrichterlichen Rechtsprechung absehen. Denn auch die Vorhersehbarkeit richterlicher Entscheidungen ist ein Rechtswert von erheblichem Gewicht. De facto folgen die Richter der Rechtsprechung der Obersten Bundesgerichte oder oberen Landesgerichte, um zu vermeiden, in der nächsthöheren Instanz abgeändert oder gar aufgehoben zu werden. Ansonsten wäre nämlich zu erwarten, dass die bei ihnen unterlegene Partei Rechtsmittel einlegt.
  20. Was halten Sie von der Aussage, der Richter müsse sich "nur an das Gesetz und sein Gewissen" halten?
    • Dass der Richter sich an das Gesetz halten muss, hatten wir oben gesehen. Dies gehört quasi zu seiner Arbeitsplatzbeschreibung und schließt aus, dass der Richter etwa eine Norm mit der Begründung nicht anwendet, die in der Norm enthaltene Strafandrohung sei mit seinem Gewissen nicht zu vereinbaren. Das Gewissen könnte (und sollte) nur in dem von Art. 20 Abs. 3 GG für möglich gehaltenen Falle eine Rolle spielen, in dem das Gesetz nicht mit dem Recht übereinstimmt.
  21. Vermag die Einhaltung eines gesetzlich vorgesehenen Verfahrens richterliche Arbeit (auch falsche Entscheidungen) zu legitimieren?
    • Wir hatten oben gesehen, dass die Bindung des Richters an das Gesetz, das von dem vom Volk gewählten Parlament beschlossen wurde, richterliche Arbeit im Sinne einer auf das Volk zurückzuführenden Legitimation zu rechtfertigen vermag. Bei erstem Zusehen gilt dies allerdings nur hinsichtlich der materiell-rechtlich richtigen Urteile. Es wäre jedoch falsch, nur die richtigen Urteile als vom Willen des Gesetzgebers (und damit des Volkes) getragen anzusehen. Dass Richter falsch entscheiden können, war dem Gesetzgeber bewusst. Er hat deshalb Regeln vorgesehen, die materiell-rechtlich falsche Urteile verhindern sollen (vgl. etwa den Anspruch auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG und seine Ausprägungen im Zivilprozess). Hierzu gehören letztlich auch die richterliche Unabhängigkeit und die richterliche Neutralität. Kommt es gleichwohl zu materiell-rechtlich falschen Entscheidungen erster Instanz, gibt es die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen. Ist auch die Entscheidung letzter Instanz fehlerhaft, ist es der Wunsch des Gesetzgebers, dass diese im Interesse des Rechtsfriedens hingenommen werde. Auch fehlerhafte Urteile schaffen Rechtskraft.
  22. Vermag die richterliche Unabhängigkeit richterliche Arbeit zu legitimieren?
    • Die Legitimierung richterlicher Arbeit folgt aus der größt möglichen Übereinstimmung der richterlichen Entscheidungen mit den Gesetzen. Dabei kann die Unabhängigkeit der Richter sogar ein Hinderungsgrund sein, da sie dem Richter erlaubt, nicht immer mit dem Willen des Volkes übereinstimmen zu müssen. Allerdings hat der Richter im Sinne der materiellen Gerichtigkeit zu entscheiden, wodurch Rechtsfrieden und Rechtssicherheit gewährleistet werden.
  23. Welche Normen betonen eher die personelle Komponente der richterlichen Unabhängigkeit, welche sichern die richterliche Unabhängigkeit institutionell (als Ausprägung des Gewaltenteilungsprinzips)?
    • Art. 97 Abs.2 betont die personelle Unabhängigkeit, Art 97 Abs.1 die sachliche Unabhängigkeit
  24. Wer ist der Adressat der genannten Normen?
    • Gesetzgeber, Rechtsprechung und ausführende Gewalt
  25. Was ist unter sachlicher Unabhängigkeit zu verstehen?
    • Sachliche Unabhängigkeit i. S. des Art. 97 I GG bedeutet, dass der Richter nicht weisungsgebunden ist und jede Art der Einflussnahme auf die Entscheidung unzulässig ist.
  26. Wer fällt unter den Schutzbereich der sachlichen Unabhängigkeit?
    • Die sachliche Unabhängigkeit kommt jedem Berufsrichter (auf Lebenszeit, auf Zeit, auf Probe, kraft Auftrags) und jedem ehrenamtlichen Richter zu.
  27. Schützt die richterliche Unabhängigkeit auch vor "Hinweisen", "Anregungen", "Bitten", Urteilskritik in Beurteilungen?
    • Nein!
  28. Schützt die richterliche Unabhängigkeit vor Geschäftsprüfungen, Verlangen nach Meldung überjähriger Verfahren pp?
    • Nein. Nach der Rechtsprechung des Dienstgerichtes des Bundes schützt die richterliche Unabhängigkeit nicht davor.
  29. Gilt die richterliche Unabhängigkeit nur für die Entscheidungsfindung selbst?
  30. In welchem Umfang unterliegen Richter einer Dienstaufsicht?
    • Die richterliche Unabhängigkeit stellt den Richter nicht von einer Dienstaufsicht frei. So ist es zulässig, den Richter an Pünktlichkeit oder angemessene Umgangsformen zu erinnern.
  31. Wie weit geht der Schutzbereich der durch Art. 97 Abs. 1 GG verbürgten sachlichen Unabhängigkeit nach der nach wie vor herrschender Auffassung des BGH - umfasst er auch den sog. „Bereich der äußeren Ordnung“?
    • nach Auffassung des BGH nicht
  32. Kennen Sie andere Auffassungen?
  33. Wann ist lediglich die "äußere Ordnung" betroffen?
    • Im Rahmen der Dienstaufsicht kann dem Richter die ordnungswidrige Ausführung der Dienstgeschäfte dann vorgehalten werden, wenn es um die Sicherung des ordnungsgemäßen Geschäftsablaufs, um die äußere Form, den so genannten Bereich der äußeren Ordnung!

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